Der EuGH stärkt mit seinem Urteil ‚Santen‘ die Forschung zum erstmaligen Inverkehrbringen eines Wirkstoffs als Arzneimittel. Die bisherige Prämisse zur Vergabe von SPC gemäß dem Urteil Neurim wurde vom EuGH verworfen. Es soll kein ergänzendes Schutzzertifikat (SPC) für eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs geben, der bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen war.
In dem Verfahren ‚Santen‘ vor dem EuGH bat das vorlegende Gericht (Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich)) insbesondere um die Auslegung von Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009 und die dort genannten Begriffe „andere Verwendung dieses Erzeugnisses“ und „Verwendung[, die] in den Schutzbereich des Grundpatents fällt“ auszulegen seien.
Das Ausgangsverfahren betrifft einen Rechtsstreit zwischen der Santen SAS (Deutschland) und dem Institut National de la Propriété Industrielle INPI (Frankreich). Das INPI hatte die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats (SPC) zurückgewiesen, die Santen für ein unter dem Namen „Ikervis“ vertriebenes Arzneimittel der Augenheilkunde mit dem Wirkstoff Cyclosporin eingereicht hatte. INPI hatte das unter dem Namen „Sandimmun“ vertriebene Arzneimittel verwiesen, dessen Wirkstoff ebenfalls Cyclosporin sei und dem bereits im Dezember 1983 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen vom INPI erteilt worden war, unter anderem ebenfalls für Augenheilkunde.
Santen wiederum machte geltend, dass der Begriff „andere [therapeutische] Verwendung“ im Sinne des Urteils Neurim weit zu verstehen sei und nicht nur therapeutische Indikationen und Anwendungen für andere Krankheiten, sondern auch andere Rezepturen, Dosierungen und Verabreichungsformen einschließe.
Die Vorlagefrage bezog sich daher explizit auf Feststellungen und Prämissen aus dem Urteil Neurim (EU:C:2012:489).
Sei der Begriff „andere Verwendung“ als alleinige Anwendung als Humanarzneimittel zu beschränken nach einer Anwendung im Veterinärbereich oder muss er eine Indikation betreffen, die einem neuen Anwendungsgebiet zuzurechnen ist? Und muss im Sinne des Urteils Neurim der Umfang des Grundpatents mit dem der geltend gemachten Genehmigung für das Inverkehrbringen übereinstimmen und sich infolgedessen auf die neue medizinische Verwendung beschränken, die der therapeutischen Indikation der genannten Genehmigung entspricht?
Internationales Interesse an dem Verfahren
Das Verfahren fand internationale Beachtung, unter anderem der französischen, ungarischen und niederländischen Regierung sowie der Europäischen Kommission.
Schon grundsätzlich legten die Niederlande Protest gegen dieses Verfahren ein. Da am 23. Dezember 1983 in Frankreich eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff Cyclosporin erteilt worden sei, falle die Anmeldung von Santen somit gar nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 469/2009. Die Vorlagefragen seien daher hypothetisch.
EuGH: die Vorlagefrage ist zulässig
Der EuGH wies diesen Einwand jedoch zurück. Insbesondere die Definition und die Tragweite des Begriffs „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 stehe im Zusammenhang mit der Realität und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und sei daher zu beantworten.
Begriff Wirkstoff
Mangels einer Definition des Begriffs „Wirkstoff“ in der Verordnung Nr. 469/2009 kommt es umso mehr auf dessen Einbettung in einen Zusammenhang an, begann der EuGH seine Ausführungen. Das Gericht verwies auf frühere Entscheidungen, demnach der Begriff „Wirkstoff“ zu der Zusammensetzung eines Arzneimittels gehörende Stoffe, die keine eigene Wirkung auf den menschlichen oder den tierischen Organismus haben, nicht einschließe. Entsprechend bezieht sich der Begriff ‚Wirkstoff‘ auf Stoffe, die eine eigene pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ausüben.
Begriff Erzeugnis
Der Begriff „Erzeugnis“ wiederum bezeichne den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels, ohne dass seine Tragweite auf eine der therapeutischen Verwendungen zu beschränken wäre, erläuterte der EuGH und verwies auf Art. 1 Buchst. d der Verordnung 469/2009.
Einem Wirkstoff oder einer Wirkstoffzusammensetzung werde daher dadurch, dass er bzw. sie für eine neue therapeutische Verwendung verwendet wird, nicht die Eigenschaft eines anderen Erzeugnisses verliehen, wenn dieser Wirkstoff oder diese Wirkstoffzusammensetzung für eine andere, bereits bekannte therapeutische Verwendung verwendet worden ist.
Ergänzendes Schutzzertifikat (SPC)
Das ergänzende Schutzzertifikat (SPC) wiederum gewähre Schutz zwar allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen erfasst wird, ergänzte der EuGH, dieser gilt jedoch für alle Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats genehmigt wurden. Daraus folge, dass die Zweckbestimmung des Arzneimittels kein entscheidendes Kriterium für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats darstellt.
EuGH verwirft Prämisse aus Urteil Neurim
Aufbauend auf diese Feststellungen wandte sich der EuGH der Vorlagefrage zu. Die Auffassung, dass der Begriff „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 ausschließlich auf die erste Verkehrsgenehmigung abzielt, die in den Schutzbereich des in der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats angeführten Grundpatents fällt – eine solche Auffassung würde die Auslegung des Begriffs „Erzeugnis“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung in Frage stellen, erklärte der EuGH.
Diese Auslegung werde auch durch eine Analyse der Ziele der Verordnung Nr. 469/2009 bestätigt, fügte der EuGH hinzu und erläuterte diesen Gedanken. Ein SPC solle nicht Schutz jedweder pharmazeutischen Forschung ermöglichen, sondern vor allem der Forschung, die zum erstmaligen Inverkehrbringen eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung als Arzneimittel führt.
Daraus folge, dass der Schutzbereich des Grundpatents (und zwar entgegen den Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 27 sowie der Prämisse nach Rn. 34 des Urteils Neurim, EU:C:2012:489) bei der Definition des Begriffs „erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel“ im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 nicht zu berücksichtigen ist. Die – mit dem jetzigen Urteil verworfene – Prämisse laut Urteil Neurim sah vor, dass es unter bestimmten Umständen möglich ist, ein ergänzendes Schutzzertifikat für eine neue therapeutische Verwendung eines Wirkstoffs zu erhalten, der bereits Gegenstand einer Genehmigung für das Inverkehrbringen war.
Restriktive Auslegung der Verordnung Nr. 469/2009
Die in Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 genannte Voraussetzung könne im Übrigen auch dann erfüllt sein, wenn die Verkehrsgenehmigung, die der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats zugrunde liegt, ein Erzeugnis betrifft, das vor der Erteilung des Grundpatents bereits bekannt war, aber nie zu einer Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel geführt hat.
Aus dem Vorstehenden ergebe sich, dass eine Verkehrsgenehmigung für eine therapeutische Verwendung eines Erzeugnisses nicht als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 angesehen werden kann, wenn zuvor für eine andere therapeutische Verwendung dieses Erzeugnisses eine andere Verkehrsgenehmigung erteilt wurde, urteilte der EuGH.
Diese restriktive Auslegung der Verordnung wurde auch in den letzten Entscheidungen zur Vergabe von SPC verfolgt. Ein SPC kann nicht auf ein Arzneimittel erteilt werden, das im Grundpatent geschützt und bereits in Verkehr gebracht ist – sogar wenn eine neue Formulierung eines „alten“ Wirkstoffs dieses Arzneimittel darstellt und die Wirkung so verbessert wird, urteilte der EuGH im Fall Abraxis.
Benötigen Sie Unterstützung im Schutz von Pharmaprodukten oder Arzneimitteln oder in der Erteilung von SPC?
Unsere Patentanwälte und IP Anwälte beraten Sie gerne. Nehmen Sie bei Interesse Kontakt mit uns auf – wir freuen uns auf Ihren Anruf!
Quellen:
Bild:
HeungSoon | pixabay.com | CCO License
Schreiben Sie einen Kommentar