Die neue Netflix Serie „The Billion Dollar Code“ greift einen reellen Patentstreit auf: Stahl Google Earth den Code von Terra Vision? Wieviel Wahrheit steckt in der Netflix Erzählung über die Entstehung von Google Maps? Der Netflix Plot im Realitätscheck:
Stahl Google Earth (auf dem Google Maps beruht) den Code von Terra Vision? Das ist das Thema einer Serie von Netflix, die unter dem Titel „The Billion Dollar Code“ derzeit in Deutschland in dem Streaming Dienst gezeigt wird. Netflix wagt sich damit in ein eher schwer zugängliches Genre, nämlich in das Thema Patentschutz und Patentverletzung von Programmiercode.
Netflix Plot: US Gigant bestiehlt visionäre deutsche Erfinder
Im Netflix Plot wird dies – bemerkenswert anschaulich in der „zu-viele-Blätter-Szene“ – auf den Wesentlichen Erfindungsschritt fokussiert, als die beiden „Erfinder“ von Terra Vision Anfang der 90ger Jahre in Berlin (Deutschland) eine Programmierlösung fanden, die ein Verfahren zur bildlichen Darstellung beschrieb zur Anzeige für einen Benutzer mit einem „auswählbaren Blickpunkt“, der den Standort und die Blickrichtung des Benutzers berücksichtigt – und damit quasi den Maßstab. Letztlich ist das nötig, um eine digitale Bildvisualisierung in kleinere Abschnitte aufzuteilen und mit dem Anfordern von Daten mit höherer Auflösung zu verknüpfen zu können, die wiederum zentral gespeichert werden. Dies ermöglichte zum ersten Mal die fließende Bildvisualisierung, die für uns alle so selbstverständlich geworden ist. Denn für eine Bildschirmdarstellung einer Ansicht des Objekts entsprechend dem Blickfeld eines virtuellen Betrachters werden die benötigten Daten nur in der für jeden einzelnen Bildausschnitt erforderlichen Auflösung abgerufen – so steht es auch im Hauptanspruch des Patents auf Terra Vision.
Dies ist auch in der Realität passiert und kann wohl zurecht als der entscheidende Erfindungsschritt angesehen werden. Auf jeden Fall ist dieses Vorgehen ganz wesentlich für eine digitale Visualisierung in einer großen Datenumgebung. Die beiden „Erfinder“ von Terra Vision erhielten dafür (zusammen mit Axel Schmidt und Gerd Gruneis aus ihrem Team) im Jahr 2013 das US-Patent Nr. RE44550 mit dem Titel „Method and Device for Pictorial Representation of Space-Related Data“, mit Prioritätsdatum Dezember 1995 aus dem deutschen Patent DE1995149306.
Übrigens hat Netflix den beiden Erfindern neue Namen gegeben: der Netflix Programmierer „Juri“ ist im reellen Leben Pavel Mayer, und der visionäre Kunststudent/Kunstprofessor und Gründer von Art+Com „Carsten Schlüter“ ist der – leider in diesem Jahr 2021 plötzlich verstorbene – Joachim Sauter.
Nicht verändert dagegen wurden die Unternehmensnamen: Art+Com heißt bei Netflix und auch in der Realität so, und auch die US Firma Silicon Graphics, Inc. spielt eine fiktiv wie auch reell eine maßgebliche Rolle in den Geschehnissen.
Silicon Graphics – Schlüsselrolle um Google Earth
Denn bei der ersten Implementierung von Terravision wurden tatsächlich die von Silicon Graphics, Inc. entwickelten Onyx-Computer verwendet – sie waren zu jener Zeit schlicht die leistungsfähigsten. Damals beschäftigte Silicon Graphics zwei Personen, die später in leitenden Positionen bei Google tätig waren: Michael Jones, der zwischen 2008 und 2015 als Chief Technology Officer von Google Earth tätig war, und Brian McClendon, der zwischen 2004 und 2015 Vizepräsident für Technik bei Google war.
Seit 2006 fand zwischen Art+Com und Google eine nachweisliche E-Mail-Konversation über die Terravision-Technologie statt, und Michael Jones besuchte auch Art+Com in Deutschland, um über eine Lizenzierung oder den Erwerb von Patenten zu sprechen. Denn zu dieser Zeit führte Google eine Patentverletzungsklage gegen ein Drittes Unternehmen und wollte sich gerne auf die ja bereits bekannte und patentierte Technologie von Terra Vision beziehen. Google bezeichnete das Patent der Art+Com als „Nice-to-have-Patent“. Dennoch kam es nicht zu einem Verkauf des Patents, und Art+Com stellte die Kommunikation mit Google schließlich im Dezember 2007 ein, meldete sich dann aber wieder ab 2010 bei Google und erklärte dann, „dass Google Earth möglicherweise eine Lizenz unter dem Patent benötigte“ – allerdings vergeblich.
Google Earth Plagiat von Terra Vision? Kampf vor US Gerichten
Stattdessen mündete dies schließlich in einen dauerhaften Patentstreit, und hier trennt sich der Netflix Plot deutlich von der Realität: im reellen Leben versuchte Google zunächst, das US Patent durch zwei Anträge auf Inter-Partes-Review (IPR) für nichtig erklären zu lassen; beide Anträge wurden jedoch zurückgewiesen. Art+Com wiederum erhob 2014 in den USA Verletzungklage gegen Google – mit hohen Schadensersatzansprüchen.
Hauptsächlich umstritten vor dem US Gericht war dann gar nicht die offensichtliche und sehr große Ähnlichkeit zwischen dem von Art+Com entwickelten Terra Vision und Google Earth, sondern die Frage, ob das Patent von Art+Com überhaupt zurecht Gültigkeit hatte. Denn Google argumentierte, der entscheidende Mechanismus der Darstellung in Terra Vision sei noch vor der deutschen Patenterteilung 1995 bereits öffentlich von einem Dritten gezeigt worden: es gab nachweislich einen Vortrag aus dem Jahr 1994, den ein damaliger Mitarbeiter am Stanford Research Institute (SRI) über ein geografisches Visualisierungssystem namens „SRI TerraVision“ gehalten hatte. Dieser Mitarbeiter sagte auch als „Kronzeuge“ für Google aus – was allerdings in dem Netflix Plot gar nicht erwähnt wird.
Vergeblich machte Art+Com geltend, dieses „SRI TerraVision“ habe gar nicht die Problemlösung geboten, die ja entscheidend für das Gelingen der eigenen Terra Vision gewesen sei. Insbesondere waren in der „SRI TerraVision“ keine Schritte enthalten, die die Aufteilung eines übergeordneten Knotens in untergeordnete Knoten beinhalten – dies aber ist Teil des Hauptanspruchs des Patents von Art+Com.
Doch die Jury des US Gerichts erkannte dies nicht an. Das SRI TerraVision-System war auf zwei technischen Konferenzen öffentlich und ohne Bemühungen um Geheimhaltung vorgeführt worden – und diese „SRI TerraVision“ konnte bereits eine „Grob-zu-Fein“-Zoom-Aktion durchführen, ebenso wie auch das erst später patentierte TerraVision von Art+Com. Die Jury hielt daher das „Art+Com Terra Vision“ für im Prinzip die gleiche Computertechnologie wie die patentfreie „SRI TerraVision“.
Aus diesem Grund wurde die Klage von Art+Com abgewiesen und das US Patent auf Terra Vision von Art+Com sogar für nichtig erklärt. Denn ein Patent muss stets den Anspruch der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit erfüllen, daher darf die Erfindung nicht vor den Patentanmeldung öffentlich gemacht sein.
Das Urteil des Jury Gerichts wurde auch durch das U.S. Court of Appeals for the Federal Circuit letztlich 2017 bestätigt (District Court for the District of Delaware in No. 1:14-cv-00217-TBD, ART+COM INNOVATIONPOOL GMBH gegen GOOGLE LLC). Das US Patent auf Terra Vision von Art+Com ist für nichtig erklärt, und das zugrunde liegende deutsche Patent natürlich längst durch den Zeitablauf von 20 Jahren erloschen.
Umso bemerkenswerter, dass Netflix diesem Geschehen jetzt zu neuer öffentlicher Wahrnehmung verhilft. Unser Fazit: die Frage, ob eine Codierung geklaut wurde, beschäftigt immer wieder weltweit die Gerichte, und der Nachweis ist sehr, sehr schwer. Denn es liegt im Wesen von Codierung, dass sie nicht öffentlich ist – aber bestimmte Schlüsselwirkungen doch verblüffend ähnlich, ja, identisch sind. Gleichzeitig aber wollen meistens beide Streitparteien nicht nicht vollständigen Code den Gerichten vorlegen, denn darin liegt ja der eigentliche Marktvorteil. Und im Übrigen sind gar nicht so einfach Fachleute in den Gerichten – und schon gar nicht unter Jury Mitgliedern – mit den notwendigen Fachkenntnissen zu finden, Codierungen wirklich zu verstehen.
Wir jedenfalls können uns der Grundbotschaft dieser Netflix Serie nur anschließen: man sollte stets seine Erfindungen möglichst als Patent gut sichern und schützen. Das wenigstens haben die Berliner Erfinder von Terra Vision gemacht – und zwar weit ihrer Zeit voraus.
Quellen:
Für nichtig erklärtes US Patent der Art+Com / Terra Vision
Urteil des U.S. Court of Appeals for the Federal Circuit von 2017
Bild:
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