Eine Erfindung kann bereits im eigenen Betrieb eingesetzt sein und trotzdem noch als patentfähig gelten, ja, sogar eine Veräußerung an Dritte kann u. U. zulässig sein. Wann aber handelt es sich um eine offensichtliche Vorbenutzung, die Patentfähigkeit ausschließt?
Die Frage, ob eine Erfindung als öffentlich bekannt zu anzusehen ist, ist essentiell für einen Patentschutz. Denn eine Erfindung muss die Attritbute „neu“ und „erfinderisch“ erfüllen, um patentfähig zu sein. Genau das aber ist doch im Grunde nicht gegeben, wenn eine Erfindung bereits in der Praxis eingesetzt wird. Wann also handelt es sich um offensichtliche Vorbenutzung, die eine Patentfähigkeit ausschließt?
In der allgemeinen Rechtsprechung zum deutschen und auch europäischen Patentrecht gilt eine Erfindung als zum Stand der Technik gehörend und daher nicht mehr „neu“, wenn es einer Öffentlichkeit zugänglich ist und vom einem Fachmann analysiert und reproduziert werden könnte. In der Praxis ist dies dann der Fall, wenn es einem Fachmann ohne weiteres möglich ist, sich solche erfindungsgemäßen Produkte frei zu beschaffen, um die technische Lehre durch „reverse engineering“ nachzuvollziehen, also das Nachbauen nach eigenen Kenntnissen. Dabei ist es im Übrigen auch nicht von Bedeutung, ob die Produkte beim Reverse Engineering zerstört werden müssen.
Laut EU Richtlinie gilt Reverse Engineering als rechtlich zulässiges Mittel zum Erwerb von Informationen (Art. 3 Abs. 1 (b)). Etwas anderes soll nur gelten, wenn dies vertraglich abweichend vereinbart wurde. Dies findet sich im deutschen Gesetz für Geschäftsgeheimnisse (GeschGehG) unter § 3 GeschGehG, in Kraft seit 2019. Das deutsche Wettbewerbsrecht bestimmt zudem, dass ein „Reverse Engineering“ kein unredliches Erlangen von Kenntnis ist im Sinne des § 4 Nr. 3 UWG.
Oftmals aber kann man sich die erfindungsgemäßen Produkte nicht ganz frei beschaffen; es handelt sich vielleicht um ein Angebot an potentielle Vertragspartner oder um eine komplexe Anlage, die auf einem abgegrenzten Werksgelände steht oder deren Betrieb Installation, Wartung und Reparatur erfordert, dies aber von dem Betrieb geleistet wird, in dem die Erfindung gemacht wurde. Konnte in solchen Fällen der Dritte ausreichend Erkenntnis über die technische Lehre der Erfindung erlangen?
Offensichtliche Vorbenutzung: BGH Rechtsprechung
Bei einem Angebot an potentielle Vertragspartner jedenfalls liegt nach Entscheidung des BGH (BGH, Urt. v. 9.12.2014 – X ZR 6/13 „Presszange”) insbesondere dann keine offenkundige Vorbenutzung vor, wenn das Angebot auf die Herstellung eines erst noch zu entwickelnden Gegenstandes gerichtet ist. Wenn aber das Angebot eine Weiterverbreitung der darin enthaltenen technischen Lehre recht wahrscheinlich macht, ist es als offenkundige Vorbenutzung anzusehen. Dies hängt von der Lebenserfahrung und persönlicher Sachkenntnis des Empfängers dieses Angebots ab, erklärte der BGH.
Diese Rechtsprechung bestätigte der BGH auch in Entscheidungen über offensichtliche Vorbenutzung von vollständigen Anlagen, die ohne Geheimhaltungspflicht an Dritte veräußert wurden. Im November 2016 betonte der BGH, dass auch eine Veräußerung an Dritte für sich genommen noch nicht zur Offenkundigkeit führt, sondern darüber hinaus eine nicht nur die theoretische Möglichkeit eröffnet sein muss, dass Dritte ausreichend Kenntnis von der Erfindung erlangen (Urteil X ZR 116/14).
Im April 2020 präzisierte der BGH diese Rechtsprechung im Fall ‚Konditionierverfahren‘ (X ZR 75/18), bei dem es um die Frage ging, ob schon allein durch die Lieferung und Inbetriebnahme einer Anlage eine offensichtliche Vorbenutzung gegeben ist. Der BGH verneinte dies und entschied in dem vorliegenden Fall, dass keine offensichtliche Vorbenutzung vorlag, weil die Anlage so komplex war, dass die Abnehmerin nicht wissen konnte, wie die Anlage funktioniert. Selbst wenn einschlägige Informationen aus einer Betriebsanleitung oder dergleichen ersichtlich gewesen wären, erläuterte der BGH, könnte dies allenfalls dann zur Offenkundigkeit geführt haben, wenn zu erwarten gewesen wäre, dass die Abnehmerin diese Erkenntnisse mit beliebigen Dritten teilt oder wenn sie diese Information tatsächlich weitergegeben hätte – oder wenn der erfindungsgemäße Aufbau der Anlage aus dem Angebot ersichtlich gewesen wäre. Das aber war vorliegend nicht der Fall.
Der BGH betonte auch in diesem Urteil, das die Lebenserfahrung des Abnehmers zu berücksichtigen ist gerade für die Frage, ob er Kenntnis erlangen konnte und ob er hinreichende Veranlassung hatte, eine solche Kenntnis über die Anlage zu erlangen. Für eine unterstellte Motivation zum Kenntnisgewinn muss es zudem konkrete Anhaltspunkte geben, legte der BGH fest.
Offensichtliche Vorbenutzung in der EPA Rechtsprechung
Die europäische Rechtsprechung unterscheidet sich von der deutschen; es handelt sich um Nuancen, die allerdings eine Wirkung entfalten in konkreter Rechtspraxis. Die große Beschwerdekammer des EPA hat bereits in der Entscheidung G1/92 festgelegt, dass ein Erzeugnis zum Stand der Technik gehört, wenn es der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden könne – und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe dafür gibt, das Erzeugnis zu analysieren. Diese Rechtsprechung zeigt sich auch in konkreten Fallstudien aus dem EPA.
2013 wies das EPA eine Vorrichtung für ein Wägesystem wegen offensichtlicher Vorbenutzung als nicht patentfähig zurück (1682/09). Der Verkauf einer Vorrichtung – sofern keine besonderen Umstände vorliegen – sei laut Rechtsprechung ausreichend, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fasste das EPA zusammen. Das gelte auch auch bei Vermietung einer Vorrichtung. Der Aufbau der Vorrichtung in den Räumlichkeiten einer Firma sowie die nachfolgenden üblichen Einführungs-, Schulungs- und Wartungsmaßnahmen für die Vorrichtung habe die Merkmale der Vorrichtung für die Firma zugänglich gemacht haben, die zu dem Zeitpunkt ein Mitglied der Öffentlichkeit war.
Diesen Aspekt, dass der abnehmende Dritte als Mitglied der Öffentlichkeit zu sehen ist, betonte das EPA auch im Fall um die Aufstellung einer erfindungsgemäßen Vorrichtung auf einem geschlossenen Werksgelände von VW. Es handele sich dabei um eine offensichtliche Vorbenutzung, urteilte das EPA (T 2210/12), weil die abnehmende Firma VW und ihre Mitarbeiter bereits selbst einen Teil der Öffentlichkeit darstellen; es sei sofern irrelevant, ob sich die Vorrichtung auf einem „der Öffentlichkeit“ unzugänglichen Gelände befindet.
Auch über ein Softwareprodukt in Form eines kommerziellen Vertriebs entschied das EPA in 2015 (T 2440/12). Das durch die Software umgesetzte Verfahren sei als Stand der Technik und als offensichtliche Vorbenutzung zu anzusehen, entschied das EPA, weil ein Fachmann die Software im Prinzip Zeile für Zeile auf einem Computer ausführen könnte und dabei nicht nur das Verfahren ausführen, sondern auch Kenntnis der vom Computer ausgeführten Verfahrensschritte erlangen könnte. Da das erfindungsgemäße Softwareprodukt über die bloße Verwendung von Steuerleitungen zur Übertragung von Ein- und Ausschaltsignalen hinausgehe, setzt dessen Gebrauch eine Netzwerkstruktur und ein vorbestimmtes Datenübertragungsprotokoll voraus, und dies seien die Merkmale, die der Fachmann auf diesem Gebiet als implizit offenbart verstehen würde.
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Quellen:
BGH 2020, ‚Konditionierverfahren‘ (X ZR 75/18)
EPA 2013, ‚Wägesystem‘ 1682/09
EPA 2015, ‚Softwareprodukt (Fluid flow simulation)‘ T 2440/12
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