Für die Feststellung vom Stand der Technik in Bezug auf ein Patent werden alle bis zum Prioritätstag öffentlich zugänglichen Publikationen berücksichtigt, und zwar weltweit. Doch was gilt als öffentlich zugänglich, was als Stand der Technik aus dem Internet? BGH Leitsatz ‚Diskontinuierliche Funkverbindung‘:
In einem großen Nichtigkeitsverfahren aus dem Mobilfunk gegen das Europäische Patent ‚Diskontinuierliche Funkverbindung‘, das relevant ist für LTE-fähige Basisstationen und LTE-fähige Endgeräte, hat der BGH das Patentrecht in Bezug auf Patent Neuheit entscheidend präzisiert, nämlich den Stand der Technik und Zugänglichkeit in Bezug auf das Internet.
In dem Nichtigkeitsverfahren spielte dies insofern eine wichtige Rolle, weil eines der entgegengehaltenen Dokumente ein elektronisches Dokument war, das lediglich auf einem ftp-Server vorgehalten worden war zum Prioritätstag des angefochtenen Patents. Das warf grundsätzliche Fragen auf: was gilt eigentlich als ‚ öffentlich zugänglich ‘ im Internet?
Nach EPÜ Art. 54 Abs. 2 (Europäisches Patentrecht) und PatG § 3 Abs. 1 (Deutsches Patentrecht) bildet den Stand der Technik, was vor dem Anmeldetag oder dem Prioritätstag der Patentanmeldung schriftlich oder mündlich oder auch durch Benutzung öffentlich zugänglich gemacht worden ist.
Öffentlich zugänglich – was heißt das in Bezug auf Internet?
Das aber ist im digitalen Zeitalter schon gar nicht leicht zu bestimmen in Bezug auf die verschiedenen Zeitzonen der Erde. Ist ein online veröffentlichter Stand der Technik relevant für eine Patentanmeldung, für die diese Veröffentlichung in Europa bereits als neuer Tag galt, in Alaska und Hawaii jedoch noch als Vortag? Der BGH urteilte dazu in 2019, wir berichteten.
Im vorliegenden Fall ging es dagegen um die interessante Frage, ob jedes im Internet verfügbare Dokument ohne weiteres als ‚ öffentlich zugänglich ‘ gilt oder ob es zusätzlicher Mittel bedarf, um die Zugänglichkeit zu ermöglichen. Zu dieser Frage allerdings lieferte der BGH keine allgemeingültige Antwort, das könne „dahingestellt bleiben“, entschied der BGH.
BGH: Findbarkeit in Suchmaschinen
Immerhin aber legte sich der BGH in Bezug auf Auffindbarkeit durch Suchmaschinen und der Frage zum Stand der Technik im Internet fest. Es sei nicht zwingend erforderlich, dass das Dokument bei Eingabe geeigneter Suchbegriffe mit einer Suchmaschine auffindbar ist, um als ‚öffentlich zugänglich‘ zu gelten, entschied der BGH.
Auch deshalb bedurfte es nach Ansicht des Gerichts keiner Klärung der Frage, ob gängige Suchmaschinen schon vor dem Prioritätstag (18. August 2000) in der Lage waren, in einer zip-Datei abgelegte Word-Dokumente zu indizieren.
Stand der Technik aus dem Internet: Abruf zur Verfügung
Stattdessen sei entscheidend, erklärte der BGH als Leitsatzentscheidung, ob ein digitales Dokument über ein Verzeichnis aufgerufen werden kann, das der Öffentlichkeit als Speicherort für fachbezogene Veröffentlichungen bekannt ist. Und natürlich muss ein solcher Speicherort auch zum Abruf zur Verfügung stehen, dies ergibt sich schon aus der Begrifflichkeit „zugänglich“.
Das war vorliegend der Fall. Das für den Fall relevante elektronische Dokument wurde nachweislich vor dem Prioritätstag auf dem ftp-Server des Standardisierungsgremiums 3GPP gespeichert und stand dort zum Abruf bereit. Und dieser ftp-Server von 3GPP war in Fachkreisen bekannt und für Fachleute zugänglich, dies war auch nicht bestritten worden von den Streitparteien. Der BGH entschied daher, das elektronische Dokument auf dem ftp-Server war ‚ öffentlich zugänglich ‘.
Die auf dem Server abgelegten Dateien waren zudem in einem nach Arbeitsgruppen, Sitzungen und Dateityp eingeteilten Verzeichnis aufgelistet und konnten von dort heruntergeladen werden. Auch dies gilt als ‚öffentlich zugänglich‘ gemacht, hatte schon 2013 die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) entschieden (EPA, T 1469/10).
BGH Entscheidung zum Nichtigkeitsverfahren
Neben seiner sehr wichtigen Entscheidung zum Stand der Technik in Bezug auf Internet entschied der BGH natürlich auch in dem Patent Nichtigkeitsverfahren selbst. Aufgrund der Feststellung, dass das elektronische Dokument auf dem ftp-Server ‚ öffentlich zugänglich ‘ war, wurde es auch als Entgegenhaltung gegen das angegriffene Patent berücksichtigt.
Allerdings ohne Auswirkungen: der BGH sah den Gegenstand von Patentanspruch 1 ausgehend von diesem elektronischen Dokument NK12 als nicht nahegelegt (NK12 = Ericsson: Desription of DRX. TSG-RAN Working Group 2 (Radio layer 2 and Radio layer 3) Sophia Antipolis, France, 5 – 9 July 1999), in dem es um diskontinuierlichen Empfang (DRX) im Ruhemodus und im UTRAN Verbindungsmodus ging. Dies aber unterschied sich vom durch das angefochtene Patent beschriebenen Ruhemodus dadurch, dass die Steuerung nicht durch das Core-Netzwerk erfolgte, sondern durch das Zugangsnetzwerk (UTRAN).
Auch andere Entgegenhaltungen befassten sich – wie auch das angefochtene Patent – mit diskontinuierlichem Empfang. Insbesondere die Veröffentlichung von Sreetharan und Kumar (Cellular Digital Packet Data, Boston/London, 1996, NK16) offenbarte einen Schlafmodus für Endgeräte, bei dem eine Datenverbindung beibehalten wird.
Dies sah der BGH zwar als relevante Entgegenhaltung an, da laut dem angefochtenen Patent das Endgerät bei WCDMA während einer Paketübertragungssitzung (packet transfer session) in den Zuständen CELL-FACH und CELL-DCH sein kann. Aber letztlich führte keine der Entgegenhaltungen, auch nicht der weiteren Dokumente, die sich mit der Reduzierung des Stromverbrauchs im Betriebszustand CELL_PCH befassten, zu der Einschätzung, das angefochtene Patent habe nahegelegen.
Energieersparnis gab auch das angefochtene Patent als Ziel der Erfindung aus (nämlich den Energieverbrauch des Endgeräts während einer Paketdienstsitzung zu reduzieren). Doch das angefochtene Patent beschreibt einen Modus, in dem das Netzwerk Datenpakete an das Endgerät übertragen kann, ohne zuvor in einen anderen Betriebsmodus wechseln zu müssen – und zwar in einer Weise, die durch keine der Entgegenhaltungen vorweggenommen wurde, entschied das Gericht.
Der BGH wies die Revision gegen die vorinstanzliche Entscheidung des BPatG vollständig zurück und bestätigte das BPatG Urteil (6 Ni 34/16 (EP)), mit dem zwar die Klage auf Nichtigkeitserklärung des Patents abgewiesen wurde, aber die Beklagte etwa die Hälfte der angegriffenen Patentansprüche gegenüber der ursprünglichen Patenteintragung verlor, nämlich Patentanspruch 1 in der Variante a) sowie die Ansprüche 22 und 26.
Inzwischen ist das Streitpatent im Übrigen ohnehin durch Zeitablauf erloschen.
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Quellen:
BGH ‚Stand der Technik aus dem Internet‘, BGH Leitsatz ‚Diskontinuierliche Funkverbindung‘, X ZR 81/19
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