Die Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers, Informationen des erfolgreichen Bieters im Vergabeverfahren als vertraulich und Geschäftsgeheimnisse einzustufen, muss eine nachprüfbare Maßnahme darstellen, urteilte der EuGH – mit hohen Anforderungen.
Vergabeverfahren eines öffentlichen Auftraggebers lösen unter den beteiligten Wirtschaftsteilnehmern oftmals Unmut aus: die grundsätzlichen Vergabekriterien sind ebenso Themen der kritischen Nachfrage wie auch die Beschreibung nicht nur von behaupteter beruflicher und technischer Leistungsfähigkeit des erfolgreichen Bieters sondern auch von dessen finanzieller und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.
Vor dem EuGH wurde jetzt über eine klassische Fallsituation entschieden: in einer öffentlichen Ausschreibung vergab ein öffentlicher Auftraggeber über ein international offenes Vergabeverfahren den Auftrag letztlich wegen des niedrigeren Preises im Angebot des erfolgreichen Bieters. Eine unterlegene Bieterin forderte die Einsicht und Vorlage des strittigen Angebots, von denen Teile vertraulich waren. Einsicht wurde gewährt in die nicht-vertraulichen Teile des Angebots, doch dies reichte der unterlegenen Bieterin Ecoservice (Litauen) nicht aus und sie erhob Klage. Die Klägerin machte geltend, sie zweifele die Qualifikation des erfolgreichen Bieters an, und forderte, dass dem Gericht sämtliche Beweismittel unabhängig von deren Vertraulichkeit vorzulegen seien. Doch die Klage scheiterte bisher.
Tatsächlich verfügen in Litauen in Rechtsstreitigkeiten über die Vergabe öffentlicher Aufträge die abgelehnten Bieter über weniger Informationen als die anderen Parteien dieser Rechtsstreitigkeiten, denn in der gerichtlichen Praxis wird stets der Vertraulichkeit der Vorrang gegeben.
EU Recht für Geschäftsgeheimnisse – EU Richtlinie seit 2016
Doch entspricht das dem EU Recht für Geschäftsgeheimnisse? Und widerspricht es dem Vergabegesetz? Das Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof) aus Litauen legte diese Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, der jetzt darüber entschied (‚Klaipėdos‘, ECLI:EU:C:2021:700).
Seit 2016 gilt in der EU die Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Und Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2016/943 betont, dass die Parteien eines Prozesses nicht über unterschiedliche Informationen verfügen dürften.
Andererseits aber hat der EuGH 2008 zur Vergabe öffentlicher Aufträge entschieden, dass solche Vergabeverfahren auf einem Vertrauensverhältnis zwischen den Wirtschaftsteilnehmern und den öffentlichen Auftraggebern beruhten (Entscheidung ‚Varec‘, C‑450/06). Die Nachprüfungsinstanz müsse die Vertraulichkeit und das Recht auf Wahrung der Geschäftsgeheimnisse im Hinblick auf den Inhalt der ihr übergebenen Unterlagen (z. B. vom öffentlichen Auftraggeber) gewährleisten, legte der EuGH damals fest, wobei sie Kenntnis von solchen Angaben haben und diese berücksichtigen darf. Gemäß dieser Varec Entscheidung muss der öffentliche Auftraggeber dem betroffenen Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit geben, sich auf die Vertraulichkeit oder das Geschäftsgeheimnis zu berufen, bevor er diese Informationen an einen am Rechtsstreit Beteiligten weitergibt.
Wie also kann ein Gericht der Union seiner Verpflichtung aus Richtlinie (EU) 2016/943 nachkommen, das Recht der Wirtschaftsteilnehmer zu gewährleisten, von den Geschäftsgeheimnissen einer Partei des Rechtsstreits Kenntnis zu nehmen (z. B. auch, um entscheiden zu können, ob Klage erhoben wird) – und dennoch den Missbrauch verhindern, dass die Einsicht in die Vergabeunterlagen nur zur verbesserten Anpassung des eigenen Angebots genutzt wird?
EuGH schlägt Brücke zu Varec Entscheidung von 2008
Der EuGH schlägt mit seiner jetzigen Entscheidung eine Brücke zwischen der Varec Entscheidung von 2008 und der seit 2016 geltenden EU Richtlinie. Das Gericht betont, dass der öffentliche Auftraggeber dem betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nach wie vor die Möglichkeit geben muss, sich auf Vertraulichkeit oder das Geschäftsgeheimnis zu berufen – und zwar auch bevor diese Informationen an andere Wettbewerber und Prozessbeteiligte weitergegeben werden. Geschäftsgeheimnisse seien oft Informationen zu technischen und handelsbezogenen Fakten.
Allerdings verbindet dies der EuGH mit strengen Anforderungen an den öffentlichen Auftraggeber. Wenn ein öffentlicher Auftraggeber es abgelehnt, einem Wettbewerber eines Wirtschaftsteilnehmers „vertrauliche“ Informationen dieses Wirtschaftsteilnehmers mitzuteilen, muss diese Ablehnung nach dem Grundsatz einer guten Verwaltung gemäß Unionsrecht entsprechen, erklärte der EuGH.
Konkret bedeutet das:
Der öffentliche Auftraggeber kann nicht durch die bloße Behauptung eines Wirtschaftsteilnehmers, die vorgelegten Informationen seien vertraulich, gebunden werden; der Wirtschaftsteilnehmer muss vielmehr nachweisen, dass die Informationen, deren Offenlegung er beantragt, tatsächlich vertraulich sind. Bestehen dennoch Zweifel an der Vertraulichkeit, muss der öffentliche Auftraggeber weitere Beweise von dem Wirtschaftsteilnehmer einfordern. Der öffentliche Auftraggeber ist in der Pflicht, erläuterte der EuGH, das Recht des Antragstellers auf eine ordnungsgemäße Verwaltung mit dem Recht seines Mitbewerbers auf Schutz seiner vertraulichen Informationen abzuwägen – und dies auch vor Gericht darlegen zu können.
Lehnt der öffentliche Auftraggeber die Herausgabe von Informationen letztlich ab, muss er dennoch den wesentlichen Inhalt dieser Informationen mitteilen – „in neutraler Form“, wie der EuGH wörtlich klarstellte. Als praktische Umsetzung empfiehlt das Gericht, der öffentliche Auftraggeber solle den erfolgreichen Bieter auffordern, ihm eine nicht vertrauliche Fassung der Unterlagen zu übermitteln, die vertrauliche Informationen enthalten.
Ablehnung wegen Geschäftsgeheimnis von nationalen Gerichten zu prüfen
Letztlich müsse das zuständige nationale Gericht – das notwendigerweise über die vertraulichen Informationen und Geschäftsgeheimnisse verfügen muss, um in voller Kenntnis der Sachlage beurteilen zu können, ob diese Informationen offengelegt werden können – alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte prüfen können, betonte der EuGH, und auch die Angemessenheit der Begründung einer ablehnenden Entscheidung zur Herausgabe von vertraulichen Informationen.
Zudem müsse dieses nationale Gericht auch in der Lage sein, die Ablehnungsentscheidung oder die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags auf verwaltungsrechtliche Nachprüfung wegen Rechtswidrigkeit für nichtig zu erklären. In einem solchen Fall wäre gegebenenfalls die Sache an den öffentlichen Auftraggeber zurückzuverweisen oder dieses Gericht könne selbst eine neue Entscheidung erlassen, wenn es nach nationalem Recht dazu befugt ist. Handelt es sich dagegen um einen Beurteilungsfehlers des öffentlichen Auftraggebers, könne dieses nur dann von Amts wegen berücksichtigt werden, wenn das nationale Recht dies zulässt, schloss der EuGH seine Beurteilung.
Handlungen eines Konsortiums
Dieser Fall behandelte zudem einen weiteren Aspekt von öffentlichen Vergabeverfahren, denn bei dem erfolgreichen Bieter handelte es sich um ein Konsortium. Gerade dessen Beschreibung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit zweifelte die Klägerin Ecoservice an.
Der EuGH verwies daher auf sein Urteil ‚Esaprojekt‘ (C‑387/14) von 2017, demnach eine behauptete wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit eines Konsortiums im Verhältnis zu der konkreten Beteiligung dieses Wirtschaftsteilnehmers und damit seinem tatsächlichen Beitrag zur Ausführung einer von diesem Konsortium im Rahmen eines bestimmten öffentlichen Auftrags verlangten Tätigkeit beurteilt werden muss.
Was aber ist zu tun bei dem Verdacht auf falsche Angaben des Konsortiums? In so einem Fall kommt Art. 63 der Richtlinie 2014/24 zum Tragen, demnach es dem öffentlichen Auftraggeber obliegt, u. a. zu überprüfen, ob bezüglich dieses Wirtschaftsteilnehmers oder eines seiner Unternehmen Ausschlussgründe nach Art. 57 der Richtlinie vorliegen. Allerdings selbst dann, betonte der EuGH, wenn der öffentliche Auftraggeber solche Ausschlussgründe vermutet, müsse er dem Bieter und/oder dem Unternehmen die Möglichkeit geben, die festgestellte Unregelmäßigkeit zu beheben und folglich nachzuweisen, dass es von Neuem als ein zuverlässiges Unternehmen angesehen werden kann.
Eine nationale Regelung, nach der gegen alle Mitglieder des Konsortiums ein Ausschluss von jedem öffentlichen Vergabeverfahren verhängt werden kann, wenn sich ein Wirtschaftsteilnehmer als Mitglied eines Konsortiums bei seinen Auskünften einer schwerwiegenden Täuschung schuldig gemacht hat (ohne dass seine Partner von dieser Täuschung Kenntnis hatten) – eine solche nationale Regelung verstößt nach Ansicht des EuGH Art. 63 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit den Art. 57 Abs. 4 und 6.
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Quellen:
EuGH Urteil ‚Klaipėdos‘ (ECLI:EU:C:2021:700)
Bild:
Sammy-Sander | pixabay | CCO License
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