Jahrelanges Kartell von Roche-Novartis könnte rechtswidrig sein, entschied der Europäische Gerichtshof vor wenigen Tagen. Im Mittelpunkt stehen die Arzneimittel Avastin und Lucentis für Augenerkrankungen und die Frage, ob und inwieweit Artikel 101 AEUV die Marktdynamik schützt, die sich aus der Off-Label-Nutzung ergeben hat.
Die Entscheidung (C‑179/16) ist Teil eines langjährigen Verfahrens zwischen den beiden den schweizerischen Pharmakonzernen Novartis AG und Hoffmann-La Roche AG und der italienischen Wettbewerbs- und Marktbehörde (AGCM). Die Vereinbarung zwischen von Roche und Novartis, die darauf abzielt, die Verwendung von Avastin in ophthalmologischen Produkten zu reduzieren und die Verwendung von Lucentis in ophthalmologischen Produkten zu erhöhen, könnte eine Wettbewerbsbeschränkung darstellen. So entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 23. Januar.
Der Hintergrund
Im Jahr 2014 verhängte die italienische Wettbewerbs- und Marktbehörde (AGCM) gegen Roche und Novartis zwei Geldbußen von jeweils über 90 Millionen Euro wegen des Abschlusses einer künstlichen Differenzierungsvereinbarung zwischen Avastin und Lucentis. Aus der Sicht der AGCM sind Avastin und Lucentis für die Behandlung von Augenerkrankungen völlig gleichwertig. Die Medikamente basieren auf verschiedenen Wirkstoffen, die jedoch aus demselben Antikörper gewonnen werden und den gleichen therapeutischen Mechanismus haben.
Ziel der Vereinbarung sei es gewesen, eine allgemeine Wahrnehmung zu verbreiten, die Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der ophthalmologischen Anwendungen von Avastin aufkommen lassen, um eine Verschiebung der Nachfrage zugunsten von Lucentis zu bewirken. Die AGCM geht davon aus, dass diese Verlagerung allein für das Jahr 2012 zusätzliche Kosten in Höhe von schätzungsweise rund 45 Millionen Euro verursacht hätte, die vom italienischen Gesundheitswesen zu tragen wären.
Roche und Novartis legten beim Staatsrat der Italienischen Republik Berufung ein, der wiederum zur Auslegung der Wettbewerbsregeln in der Union den EuGH anrief. Insbesondere sollte der europäische Gerichtshof die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verschreibung und des Inverkehrbringens eines Arzneimittels im Hinblick auf seine Off-Label-Nutzung klären.
Auslegung des Artikels 101 AEUV
Der EuGH befasste sich daher umfassend mit der Auslegung des Art. 101 AEUV zu den folgenden Aspekten:
- ob die rechtlichen Hindernisse, die sich aus den Bestimmungen über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für die Verwendung außerhalb der Etikettierung ergeben (Richtlinie 2001/83/EG, Abs. 6), die Substituierbarkeit von Avastin und Lucentis für die Behandlung von Augenkrankheiten und damit ihre Zugehörigkeit zum gleichen Produktmarkt ausschließen.
- ob sich die Beschränkungen des Wettbewerbs der Verbotsregel des Artikels 101 Absatz 1 AEUV entziehen, weil es sich um eine Nebenabrede zu der Lizenzvereinbarung handelt?
- ob das fragliche Kollusionsverhalten auf jeden Fall als eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung eingestuft werden kann. Hier stellte sich dem Gericht auch die Frage, ob es für die Anwendung von Artikel 101 AEUV von Bedeutung ist, dass das fragliche Kollusionsverhalten im Rahmen einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen, die nicht im Wettbewerb stehen, entstanden ist.
„Ist für ein Arzneimittel eine Erstgenehmigung für das Inverkehrbringen gemäß Unterabsatz 1 erteilt worden, so müssen auch alle weiteren Stärken, Darreichungsformen, Verabreichungswege und Verabreichungsformen sowie alle Änderungen und Erweiterungen gemäß Unterabsatz 1 genehmigt oder in die Erstgenehmigung für das Inverkehrbringen einbezogen werden. Alle diese Genehmigungen für das Inverkehrbringen werden … als Bestandteil derselben umfassenden Genehmigung für das Inverkehrbringen angesehen.“ Richtlinie 2001/83/EG, Abs. 6
Off-Label-Nutzung
Off-Label-Nutzung ist der Begriff für „nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch“. Gemeint ist damit, dass ein Arzneimittel gegen eine Krankheit eingesetzt wird, für die es von den Zulassungsbehörden keine Genehmigung hat. Die Off-Label-Nutzung von Arzneimitteln ist den Unionsländern und auch in verschiedenen Therapiegebieten unterschiedlich stark ausgeprägt. Das EU-Recht berücksichtigt dies und enthält einige Bestimmungen (vor und nach der Off-Label-Nutzung), die die Möglichkeiten für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die für eine solche Verwendung bestimmt sind, einschränken (Verordnung (EG) Nr. 726/2004). Arzneimittelhersteller müssen bei der Off-Label-Nutzung die Regeln aus dem Pharmakovigilanz-System beachten. Andererseits regelt das EU-Recht nicht die Verschreibung von Arzneimitteln für den Off-Label-Einsatz, denn hier erhält die therapeutische Freiheit der Ärzte die höhere Priorität.
Das Gericht hob hervor, dass der relevante Markt für die Zwecke der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV in Anbetracht der Besonderheiten, die der Wettbewerb im Pharmasektor aufweist, grundsätzlich die Arzneimittel umfassen könne, die bei denselben therapeutischen Indikationen eingesetzt werden können.
EuGH sieht mögliche Wettbewerbsbeschränkung
Der EuGH klärte mit seinem Urteil wichtige Fragen zum Rechtsrahmen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln und dem EU-Wettbewerbsrecht. Der EuGH entschied im Einzelnen:
- Eine nationale Wettbewerbsbehörde kann über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln entscheiden – auch außerhalb der Etikettierung. Sie beurteilt dabei auch, wie dies sich möglicherweise auf die Struktur von Nachfrage und Angebot auswirkt.
- Eine Absprache zwischen den Parteien einer die Verwertung eines Arzneimittels betreffenden Lizenzvereinbarung ist der Anwendung dieser Bestimmung nicht deshalb entzogen, weil es sich etwa um eine Nebenabrede zu der Lizenzvereinbarung handelt.
- Eine künstliche Differenzierungsvereinbarung ist eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne dieser Bestimmung. Dies gilt auch im Rahmen einer Lizenzvereinbarung zwischen Unternehmen, die nicht im Wettbewerb stehen.
Wie geht es weiter?
Das nun entschiedene Verfahren ist eine Zwischenetappe in dem beim vorlegenden, italienischen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Denn ob eine betrügerische Absprache vorlag, bei der sich die beiden Pharmaunternehmen verpflichteten, Dritten Behauptungen über die geringere Unbedenklichkeit eines Arzneimittels im Vergleich zu einem anderen zu übermitteln, müssen die nationalen Gerichte klären.
Benötigen auch Sie Unterstützung im Wettbewerbsrecht?
Jeder Fall wird von uns individuell und sorgfältig betrachtet. Nutzen Sie doch noch heute einen unverbindlichen Rückruf-Termin mit uns!
Quellen:
Bilder:
Gromovataya /pixabay.com / CCO License || PIRO4d /pixabay.com / CCO License